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BVerfG, Urteil vom 11. März 2003, AZ.: 1 BvR 426/02 - Einfluss von "Gambelli" auf deutsches Sportwettenrecht

Leitsätzliches

Das Gambelli-Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellt eine Veränderung der Umstände i.S.d. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO dar.
Die Versagung des (einstweiligen) Rechtschutzes bzw die sofortige Vollziehung der Untersagung der Vermittlung von Sportwetten an einen Veranstalter in Österreich ist daher unzulässig.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

IM DEM VERFAHREN

ÜBER

DIE VERFASSUNGSBESCHWERDE

Aktenzeichen: 1 BvR 1446/04

Entscheidung vom 26. August 2004

des G.,

gegen

 

a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 2004 - 4 B 858/03 -,

b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 11. April 2003 - 1 L 403/03 -,

c) die Anordnung der sofortigen Vollziehung ind er Ordnungsverfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Köln vom 14. Oktober 2002 - 32-321/23-322/02 -

 und     

 

Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

 hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin ... und die Richter ..., ... .

am 26. August 2004 einstimmig beschlossen:

 

1.        
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 2004 - 4 B 858/03 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

2.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

 

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die sofortige Vollziehung der Untersagung der Vermittlung von Sportwetten an einen Veranstalter in Österreich.

1.
Der Beschwerdeführer ist Inhaber und Betreiber einer Wettannahmestelle für Sportwetten in Nordrhein-Westfalen, wobei nach seinen Angaben die Weiterleitung von Sportwetten den größten Teil seines Geschäftes ausmacht.

Zunächst vermittelte der Beschwerdeführer Sportwetten aufgrund eines Vertrages mit einem Berliner Wettbüro, das nach seinen Angaben über eine Genehmigung für die Veranstaltung von Sportwetten nach dem Gewerberecht der Deutschen Demokratischen Republik verfügt. Die im Ausgangsverfahren antragsgegnerische Behörde untersagte dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 14. Oktober 2002 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung "die weitere Ausübung der Tätigkeit 'Vermittlung von Sportwetten' soweit sich diese auf die Annahme bzw. Vermittlung von Sportwetten erstreckt, die durch ein in Nordrhein-Westfalen nicht zugelassenes Sportwettunternehmen veranstaltet werden".

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des vom Beschwerdeführer eingelegten Widerspruchs, über den noch nicht entschieden ist, im Oktober 2002 ab. Das Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Die erkennende Kammer des Bundesverfassungsgerichts nahm eine hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde - 1 BvR 466/03 - nicht zur Entscheidung an (Beschluss vom 16. Mai 2003). Die Kammer stützte die Nichtannahme darauf, dass nicht ersichtlich sei, dass es für den Beschwerdeführer unzumutbar sei, zunächst das Widerspruchsverfahren und gegebenenfalls ein Hauptsacheverfahren zu betreiben.

Ab dem Februar 2003 verlegte sich der Beschwerdeführer auf die Vermittlung von Sportwetten an einen österreichischen Veranstalter. Nach seinen Angaben begrenzte er die Entgegennahme von Wetteinsätzen auf 20 Euro und die "maximale Jahresverlusthöhe" für jeden Wettkunden auf 2.500 Euro. Er richtete im Februar 2003 einen Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO an das Verwaltungsgericht mit dem Ziel, den früheren Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs wiederherzustellen. Diesen Antrag stützte er im Wesentlichen auf eine durch den neuen Vertragspartner geänderte Sachlage sowie auf die sich durch die Schlussanträge des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof abzeichnende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Vermittlung von Sportwetten an Veranstalter in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag des Beschwerdeführers ab. Das Gemeinschaftsrecht führe zu keiner für den Beschwerdeführer günstigeren Sichtweise.

Hiergegen legte der Beschwerdeführer im April 2003 Beschwerde ein. Im Laufe dieses Beschwerdeverfahrens berief sich der Beschwerdeführer auf die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 6. November 2003 - Rs. C-243/01 <Gambelli> -, GewArch 2004, S. 30). Zugleich unterbreitete er dem Gericht Werbematerial von West-Lotto zum Beleg der aggressiven Werbestrategien des staatlich konzessionierten Wettunternehmens.

Das Oberverwaltungsgericht wies im Mai 2004 die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Die Erfolgsaussichten des Widerspruchs könnten allenfalls als offen beurteilt werden. Im Hinblick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bestehe Anlass, das Werbeverhalten der staatlichen Wettanbieter zu überprüfen. Diese Prüfung könne aber im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht vorgenommen werden. Eine deswegen vorzunehmende Interessenabwägung ergebe, dass das Suspensivinteresse des Beschwerdeführers hinter dem öffentlichen Interesse zurücktreten müsse.

2.
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Es verstoße gegen die genannten Grundrechte, dass das Oberverwaltungsgericht eine ihm mögliche tatsächliche und rechtliche Bewertung der Untersagungsverfügung nicht vorgenommen habe. Aus dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts ergebe sich nicht, warum es dem Gericht im Rahmen eines mehr als ein Jahr dauernden Beschwerdeverfahrens und angesichts des vorgelegten Materials nicht möglich sei, die Sach- und Rechtslage umfänglich zu prüfen. Es sei klar erkennbar und von ihm dargelegt, dass die Umstände, unter denen der Europäische Gerichtshof eine staatliche Monopolisierung von Sportwetten als zulässig ansehe, in Nordrhein-Westfalen nicht erfüllt seien. Der Verweis des Oberverwaltungsgerichts auf ein Hauptsacheverfahren verletzte wegen der zu erwartenden Dauer dieses Verfahrens seinen Justizgewährungsanspruch.

3.
Die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen und die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts richtet, nimmt sie die Kammer zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b, § 93 c BVerfGG). Im Übrigen liegen die Annahmevoraussetzungen nicht vor.

1.
Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts steht der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) nicht entgegen. Das vorläufige Rechtsschutzverfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung bildet gegenüber dem Hauptsacheverfahren ein selbständiges Verfahren, so dass auch letztinstanzliche Entscheidungen in Eilverfahren grundsätzlich mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden können (vgl. BVerfGE 35, 382 <397> m.w.N.). Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert zwar in der Regel dann die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens, wenn es geeignet ist, den geltend gemachten Verfassungsverstoß zu beseitigen (vgl. BVerfGE 51, 130 <138 ff.>). Die Notwendigkeit, vorab das Widerspruchsverfahren und ein sich gegebenenfalls anschließendes Klageverfahren zu betreiben, fehlt allerdings, wenn dies - wie hier - dem Beschwerdeführer nicht zumutbar ist (vgl. BVerfGE 79, 275 <279>).

Der Widerspruch des Beschwerdeführers, um dessen Wirkung es im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren geht, datiert vom 17. Oktober 2002, ohne dass insoweit ein Verfahrensfortgang zu erkennen ist. Vielmehr hat die Antragsgegnerin im Mai 2004 gegenüber dem Beschwerdeführer erklärt, dass sie den Widerspruch bisher nicht der Widerspruchsbehörde vorgelegt habe, weil die Behördenakten sich noch beim Oberverwaltungsgericht befänden, ohne dass deutlich wird, weshalb das Widerspruchsverfahren nicht mit Hilfe eines Doppels der Behördenakte durchgeführt werden kann.

Auch die angegriffenen Beschlüsse im Verfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO sprechen für die Unzumutbarkeit der Verweisung auf das Hauptsacheverfahren. Seinen Abänderungsantrag stellte der Beschwerdeführer im Februar 2003, das Verwaltungsgericht lehnte ihn im April 2003 ab; der die Beschwerde zurückweisende Beschluss des Oberverwaltungsgerichts erging im Mai 2004. Auch in diesem Beschluss sah sich das Oberverwaltungsgericht - nach über einem Jahr - nicht in der Lage, die Sach- und Rechtslage mehr als nur summarisch zu prüfen. Vorgelegtes Tatsachenmaterial wird nicht einmal summarisch bewertet.

2.
Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wirft keine Fragen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG durch die Nichtgewährung von einstweiligem verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 79, 69 <74 ff.>).

3.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts ist zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Dieser Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).

Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <275>; 84, 59 <77>; 93, 1 <13>; stRspr). Dieses Verfahrensgrundrecht verlangt jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Deswegen sind die Gerichte gehalten, bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über einstweiligen Rechtsschutz der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>).

Unter Missachtung dieser Grundsätze hat das Oberverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer einstweiligen Rechtsschutz versagt.

In der Tatsache, dass er sich nach der Zurückweisung seiner ersten Beschwerde durch das Oberverwaltungsgericht vertraglich an einen in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union lizenzierten Anbieter gebunden hat, hätte im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG ein veränderter Umstand im Sinne von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gesehen werden müssen. Die dadurch auftretenden europarechtlichen Fragen konnten im ersten Eilrechtsschutzverfahren nicht berücksichtigt werden. Auch auf die geänderte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs konnte sich der Beschwerdeführer für seinen Abänderungsantrag berufen, da die höchstrichterliche Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage, die zu einer Veränderung der Umstände im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO führen kann, auch durch den Europäischen Gerichtshof möglich ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, NVwZ 1999, S. 785).

Das Oberverwaltungsgericht begründet nicht ausreichend, weshalb es nach mehr als einjähriger Prüfung zu der Einschätzung gelangt, die "gebotene Prüfung" des Verhaltens der staatlichen Wettanbieter könne "der Senat in dem auf eine lediglich summarische Überprüfung ausgerichteten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht" vornehmen. Hierzu sei eine "umfängliche Aufklärung" und eine "komplexe Bewertung" notwendig, die einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müsse. Warum das vom Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren vorgelegte umfangreiche Tatsachenmaterial für die erforderliche Prüfung anhand der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Kriterien nicht ausreichen soll, wird nicht ausgeführt. Dies wäre aber insbesondere wegen der Dauer des Beschwerdeverfahrens zu begründen gewesen.

Weil dem Oberverwaltungsgericht eine sichere Prognose über die Erfolgsaussichten des Widerspruchs des Beschwerdeführers nicht möglich erschien, musste es über die Beschwerde des Beschwerdeführers anhand einer Interessenabwägung entscheiden. Auch diese Abwägung wird den Anforderungen, die Art. 19 Abs. 4 GG an einen effektiven Eilrechtsschutz stellt, nicht gerecht. Das Oberverwaltungsgericht geht jedenfalls bei der Einstellung der Interessen des Beschwerdeführers in die Abwägung erkennbar von unrichtigen Voraussetzungen aus. Wenn das Gericht ausführt, es bleibe dem Beschwerdeführer unbenommen, Wetten mit Veranstaltern zu vermitteln, die eine Genehmigung nach dem nordrhein-westfälischen Sportwettengesetz besäßen, ignoriert es, dass der Beschwerdeführer mehrfach und - soweit ersichtlich - unbestritten vorgetragen hat, dass er beim einzigen in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Anbieter von Sportwetten, West-Lotto, vergeblich versucht habe, eine Vermittlungslizenz zu bekommen.

4.
Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre.

5.
Die Kammer hebt deshalb nach § 93 c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts auf und verweist die Sache an dieses zurück.

6.
Soweit der Beschwerdeführer den Beschluss des Verwaltungsgerichts und die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheids vom 14. Oktober 2002 angreift, liegen die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vor. Von einer Begründung wird insoweit gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

III.

Mit dieser Entscheidung erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

(Unterschriften)