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LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 1. März 2002, 18 Sa 5/02 - Einhaltung von Formvorschriften bei außerordentlicher Kündigung

Leitsätzliches

Ein Arbeitgeber, der sich selbst eine Konfliktsteuerungsinstrument auferlegt oder einem solchen, von Dritten angebotenen Mittel grundsätzlich anschließt, muss sich im Einzelfall an die darin niedergelegten Verfahrensweisen halten. Eine außerordentliche Kündigung ist ansonsten unwirksam wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip.Beleidigungen und insbesondere Bedrohungen von Vorgesetzten und Mitarbeitern stellen jeweils einen erheblichen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis dar und sind nach der Rechtsprechung an sich geeignet, eine verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Zwar ist dazu grundsätzlich ein schuldhaftes Verhalten Voraussetzung, in Ausnahmefällen – wie etwa bei Alkoholkrankheiten – kann darauf jedoch verzichtet werden.

 

LANDESARBEITSGERICHT BADEN-WÜRTTEMBERG

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

 

Aktenzeichen: 18 Sa 5/02

 

Entscheidung vom 1. März 2002

 

 

 

In dem Rechtsstreit

 

...

 

hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg- 18. Kammer - durch den Richter am Arbeitsgericht ----, den ehrenamtlichen Richter --- und den ehrenamtlichen Richter ---- auf die mündliche Verhandlung vom 01.03.2002 für Recht erkannt:

 

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts S. vom 12.09.2001 – 15 Ca 6267/99 – abgeändert:

 

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 08.07.1999, dem Kläger am 15.07.1999 zugegangen, nicht aufgelöst worden ist.

 

2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreites.

 

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung der Beklagten vom 08.07.1999.

 

Der am 03.11.1953 geborene, geschiedene Kläger, türkischer Nationalität, war seit 12.05.1980 als Straßenreinigungswart, zuletzt bei der Betriebsstelle B. des Amtes für Abfallwirtschaft und Stadtreinigung der Beklagten, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien sind kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) und die ihn ergänzenden Tarifverträge anzuwenden. Der Kläger war zuletzt in der Lohngruppe 3a des Bezirkslohntarifvertrages Nr. 5 eingruppiert. Sein letztes Bruttomonatsentgelt betrug € 1 994,04. In der Beschäftigungsdienststelle des Klägers ist ein Personalrat gebildet. Bei der Beklagten besteht eine Dienstvereinbarung über den Umgang mit alkoholkranken oder alkoholgefährdeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom 09.09.1988 (fortan: DV 1988). Deren § 3 „Vorgehen bei Rückfall“ lautet wie folgt:

 

„Fällt der Mitarbeiter nach Abschluss einer Therapiemaßnahme oder einjähriger Unauffälligkeit am Arbeitsplatz wieder wegen Alkoholmissbrauchs auf, so wird unter Beteiligung der in § 1 (2) genannten Personen (unmittelbarer Vorgesetzter, Personalstelle des Amts, Personalrat, Sozialdienst) ein Gespräch mit ihm geführt mit dem Ziel, ihn zu erneuter Heilbehandlung zu bewegen. Dem Mitarbeiter werden in einer schriftlichen Abmahnung durch den Leiter des Beschäftigungsamts arbeits- oder dienstrechtliche Konsequenzen angedroht mit dem Hinweis, daß er bisher nicht genug zur Heilung beigetragen hat.

 

Im weiteren wird nach § 1 (3) ff. vorgegangen.“

 

Wegen des weiteren Inhalts wird auf die DV 1988 verwiesen (AS 37 – 43 d. A. d. ArbG). Infolge wiederholter Alkoholauffälligkeit des Klägers im Zeitraum von November 1993 bis März 1994 wurden von den zuständigen Stellen der Beklagten die Schritte 1 bis 4 entsprechend dem in § 1 („Vorgehen bei erstmaliger Auffälligkeit“) geregelten Verfahren der DV 1988 durchgeführt. So kam es zu mehreren Gesprächen mit dem Kläger (vom 27.08.1992, 26.11.1993 und 08.02.1994), die zu Aktenvermerken geführt haben (vom 30.11.1993, 09.02.1994 und 08.03.1994 – jew. AS 102, 104 u. 105 d. A. d. ArbG). Aus Anlass dieser Alkoholauffälligkeiten wurden dem Kläger entsprechend den jeweiligen Schritten der DV 1988 Abmahnungen vom 03.09.1993, 15.12.1993 und 08.03.1994 erteilt (jew. AS 101, 103 u. 106 d. A. d. ArbG). Ab April 1994 bis Ende des Jahres 1998 war der Kläger durch alkoholbedingte Arbeitsvertragsverletzungen nicht aufgefallen (vgl. auch Aktenvermerk v. 15.04.1994, AS 107 d. A. d. ArbG). 1989 wurde der Kläger wegen Hausfriedensbruchs, 1991 wegen Hausfriedensbruchs und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und 1992 wegen gefährlicher Körperverletzung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit strafgerichtlich verurteilt. Wegen dieser Verurteilungen ist der Kläger mit Schreiben vom 14.06.1993 (AS 108 d. A. d. ArbG) abgemahnt worden. Am 12.01.1999 wurde der Kläger wegen einer alkoholbedingten Auffälligkeit ermahnt. Im Mai und Juni 1999 fiel der Kläger wegen Trunkenheit während der Arbeitszeit insgesamt fünfmal auf.

 

Der Kläger betrat am 30.06.1999 um 15.15 Uhr die Kantine der Beklagten im Gebäude B-straße 41 in S. und verlangte von der Kantinenführerin Z. Bier, um es in der Kantine zu trinken. Da der Kläger jedenfalls angetrunken war, kam Frau Z. dem Verlangen nicht nach. Daraufhin wurde der Kläger aggressiv und beschimpfte Frau Z. als „Arschloch“. Außerdem bedrohte er sie mit den Worten „Meine Pistole ist schon geladen und die PKK weiß eure Wohnungen“. Verängstigt rannte Frau Z. auf den Flur, wo sie auf den Vorarbeiter B. traf. Einer Aufforderung des Herrn B., nach Hause zu gehen, kam der Kläger nicht nach. Der Kläger wiederholte sich mit den Worten, „Ihr seid alles Arschlöcher, die Pistolen sind schon geladen und die PKK weiß eure Wohnungen“. Daraufhin holten Herr B. und Frau Z. den Betriebsstellenleiter Br., der den Kläger aus der Kantine verwies. Die Kantinenführerin Z. litt nach dem Vorfall unter Angstzuständen. Strafanzeige ist erstattet worden. In Absprache mit dem zuständigen Polizeirevier ist dem Kläger Hausverbot für das Amt für Abfallwirtschaft und alle dazugehörigen Betriebsstellen erteilt worden.

 

Die Leitung des Amtes für Abfallwirtschaft und Stadtreinigung unterrichtete das zum Kündigungsausspruch befugte Haupt- und Personalamt der Beklagten mit Schreiben vom 06.07.1999 über den Vorfall vom 30.06.1999. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben verwiesen (AS 109, 110 d. A. d. ArbG). Mit zugegangenem Faxschreiben vom 07.07.1999, 12.13 Uhr, wurde der zuständige Personalrat des Amtes für Abfallwirtschaft unter Mitteilung des Vorfalls vom 30.06.1999 zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung gehört. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf das Schreiben Bezug genommen (AS 20, 21 d. A. d. ArbG). Mit der Beklagten am 08.07.1999 per Fax um 14.10 Uhr zugegangenem Schreiben hat der Personalrat der Kündigungsabsicht zugestimmt (AS 22 d. A. d. ArbG). Mit dem Kläger am 15.07.1999 zugegangenem Schreiben vom 08.07.1999 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos. Auf Grund einer Beschäftigungszeit des Klägers von mehr als 15 Jahren konnte die Beklagte das Arbeitsverhältnis nach § 52 Abs. 1 BMT-G nur aus wichtigem Grunde gemäß § 53 BMT-G kündigen.

 

Mit seiner bei Gericht am 26.07.1999 eingegangenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen behauptet und geltend gemacht:

 

Ein wichtiger Grund sei nicht gegeben. Nachdem der Beklagten seine alkoholbedingten Fehlverhalten im Jahre 1999 bekannt gewesen seien, hätte sie nach der DV 1988 verfahren müssen. Am Vorabend des 30.06.1999 habe er in den Nachrichten das Todesurteil über den PKK-Führer Öcalan erfahren. Dies habe ihn außerordentlich aufgeregt. Er habe dann ab 19.30 Uhr bis 06.00 Uhr 15 Flaschen Bier und 2 Flaschen Wein getrunken. Auch nach der Arbeitsaufnahme habe er mehrere Flaschen Bier getrunken. Nach dem Vorfall vom 30.06.1999, an den er sich nicht mehr erinnern könne, sei er arbeitsunfähig gewesen. Er habe sich zunächst ab 17.11.1999 einer Alkoholentgiftung im Bürgerhospital der Stadt S. und danach erfolgreich einer Alkoholentziehungskur in der Fachklinik für suchtkranke Männer, Therapiezentrum Münzesheim (AS 136 d. A. d. ArbG), unterzogen. Die Anhörung des Personalrats vor Ausspruch der Kündigung bestreite er mit Nichtwissen.

 

Der Kläger hat beantragt:

 

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die von der Beklagten am 08.07.2001 ausgesprochene außerordentliche Kündigung nicht aufgelöst worden ist.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte hat im Wesentlichen behauptet und geltend gemacht:

 

Eine Weiterbeschäftigung des Klägers sei für sie auf Grund der gravierenden Störungen des Betriebsfriedens durch sein Verhalten vom 30.06.1999 unzumutbar. Frau Z. leide seit dem Vorfall unter Angstzuständen. Der Kläger sei nicht wegen seiner Alkoholerkrankung, sondern wegen seines aggressiven Verhaltens und der ausgestoßenen ernst zu nehmenden Drohungen entlassen worden. Auch alkoholbedingtes Fehlverhalten stelle einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund dar. Die Anhörung des Personalrats sei ordnungsgemäß erfolgt.

 

Durch das dem Kläger am 25.09.2001 zugestellte Urteil vom 12.09.2001 hat das Arbeitsgericht die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, auf Grund des feststehenden Sachverhaltes sei nach dem für eine verhaltensbedingte Kündigung zu Grunde liegenden Prüfungsprogramms auch in Zukunft von alkoholbedingten Ausfällen und Bedrohungssituationen auszugehen. Auf die DV 1988 könne sich der Kläger nicht berufen. Die Verhaltensweise des Klägers vom 30.06.1999 werde als Rauschtat oder Rauschexzess von ihr nicht erfasst. Im Hinblick auf die Darlegung der Anhörung des Personalrats reiche ein bloßes Bestreiten des Klägers mit Nichtwissen nicht mehr aus, um den Vortrag der Beklagten über den ordnungsgemäßen Verlauf des Verfahrens in Zweifel zu ziehen. Hiergegen richtet sich die am 24.10.2001 eingelegte und mittels eines am 26.11.2001 (Montag) beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatzes begründete Berufung des Klägers.

 

Er trägt vor,

 

das Arbeitsgericht habe den Prüfungsmaßstab verkannt. Auf Grund seiner Alkoholerkrankung hätte es die für eine krankheitsbedingte Kündigung geltenden Maßstäbe zu Grunde legen müssen. Aber selbst dann, wenn er sein Verhalten hätte steuern können, müsste die vorzunehmende Interessenabwägung zu seinen Gunsten ausfallen. Hierfür spreche seine Beschäftigungsdauer von über 19 Jahren, die Nichteinhaltung der DV 1988 und seine jedenfalls gegebene verminderte Schuldfähigkeit. Die Anhörung des Personalrats sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, da die Beklagte wider besseres Wissen die Alkoholsuchtproblematik nicht erwähnt habe.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Arbeitsgerichts S. vom 12.09.2001 abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die von der Beklagten am 08. Juli 2001 ausgesprochene außerordentliche Kündigung nicht aufgelöst worden ist.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen insbesondere mit der Behauptung, der stellvertretende Personalratsvorsitzende, der die Sitzung vom 08.07.1999 infolge von urlaubsbedingter Abwesenheit des Personalratsvorsitzenden geleitet habe, sei zum Zeitpunkt der Personalratsentscheidung über alle vorausgehenden Umstände in Bezug auf die Alkoholerkrankung und die Umstände des Alkoholverhaltens innerhalb des Amtes informiert gewesen. Die detaillierte Kenntnis beruhe auf zwei Gründen. Zum einen gebe es bei ihr Arbeitskreise, in denen im Durchschnitt alle zwei Monate die Problemfälle besprochen würden. An diesen Arbeitskreisen habe der Personalratsvorsitzende regelmäßig teilgenommen. Zum anderen habe das Personalratsmitglied Sch., der unmittelbarer Vorgesetzter des Klägers gewesen sei, wiederholt bei Personalratssitzungen und auch in Einzelgesprächen den „Problemfall P.“ besprochen.

 

Ergänzend wird auf die von den Parteien im zweiten Rechtszug gewechselten Schriftsätze, deren Inhalt mündlich vorgetragen ist, die zu den Akten gelangten Unterlagen, sie bildeten den Gegenstand der mündlichen Verhandlung, und die Sitzungsniederschrift verwiesen.

 

Nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung und vor der Verkündung der Entscheidung reichte die Beklagte den Schriftsatz vom 27.03.2002 zur Akte.

 

Entscheidungsgründe:

 

I.

 

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 c) a. F. ArbGG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und ausgeführte (§§ 66 Abs. 1 S. 1 a. F., 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 518 Abs. 1 und 2, 519 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 ZPO a. F.; vgl. Art. 3 Nr. 3, § 26 Nr. 5 EGZPO des ZPO-RG vom 27.07.2001) und auch im Übrigen zulässige Berufung führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils. Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 08.07.1999 hat das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Die außerordentliche Kündigung verstößt gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

 

1. Die mündliche Verhandlung war nicht wieder zu eröffnen. Der nach Schluss der mündlichen Verhandlung von der Beklagten zur Akte gegebene Schriftsatz enthält keine Tatsachen, die eine Wiedereröffnung der Verhandlung rechtfertigen (§ 156 Abs. 2 ZPO). Nachgebrachtes neues Vorbringen rechtfertigt keine Wiedereröffnung (vgl. bereits RG 102, 266).

 

2. Nach § 626 Abs. 1 BGB, nichts anderes gilt für die wortgleiche Vorschrift des § 53 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BMT-G (vgl. BAG, Urteil v. 20.04.1977 – 4 AZR 778/75 – AP Nr. 1 zu § 54 BAT: § 54 BAT entspricht § 53 BMT-G), kann der Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist aus wichtigem Grund nur dann kündigen, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer ihm unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei hat die Konkretisierung des wichtigen Kündigungsgrundes im Wege einer abgestuften Prüfung in zwei systematisch zu trennenden Abschnitten zu erfolgen. Zu prüfen ist zunächst, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund abzugeben; ist diese Voraussetzung erfüllt, so kommt es weiter darauf an, ob sich der Sachverhalt über seine abstrakte Eignung hinaus unter Berücksichtigung aller vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles und bei einer umfassenden Interessenabwägung zu einem die außerordentliche Kündigung im Streitfall rechtfertigenden Grund konkretisiert (ständige Rechtsprechung des BAG, z. B. Urteil v. 14.11.1984 – 7 AZR 133/83 – AP Nr. 89 zu § 626 BGB unter II 3 b der Gründe). Bei der auf der ersten Stufe der Kündigungsprüfung zu treffenden Feststellung der vom Einzelfall losgelösten abstrakten Eignung des wichtigen Grundes ist nicht auf die besondere subjektive Auffassung des einzelnen Arbeitgebers abzustellen, sondern auf die Beurteilung und Würdigung eines objektiv, neutral und verständig denkenden und handelnden unbeteiligten Arbeitgebers (ständige Rechtsprechung des BAG, z. B. AP Nr. 4, 5, 7, 38 u. 42 zu § 626 BGB). Im Rahmen der Prüfung der ersten Stufe der Kündigung („Kündigungsgrund an sich“) ist systematisch in Übereinstimmung mit dem Prüfungsprogramm bei einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung wie folgt vorzugehen: Im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung muss zu besorgen sein, der Arbeitnehmer werde sich auch in Zukunft vertragswidrig verhalten. Die Kündigung ist keine zulässige Sanktion des Arbeitgebers. Vielmehr gilt auch im Bereich der verhaltensbedingten Kündigung das Prognoseprinzip (zumindest seit 1988, BAG, Urteil v. 10.11.1988 – 2 AZR 215/88 – AP Nr. 3 zu § 1 KSchG 1969 Abmahnung, zu II 2 d bb der Gründe; ebenso BVerfG, Beschluss v. 21.02.1995 – 1 BvR 1397/93 – AP Nr. 44 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. IX zu C I 3 aa der Gründe; vgl. auch HaKo-Pfeiffer, KSchG, 1. Aufl., § 1 Rz. 140 ff.). Der Kündigungszweck ist zukunftsbezogen ausgerichtet, weil mit der verhaltensbedingten Kündigung das Risiko weiterer Vertragsverletzungen ausgeschlossen werden soll. Entscheidend ist, ob eine Wiederholungsgefahr besteht oder ob das vergangene Ereignis sich auch künftig weiter belastend auswirkt (Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts, 1987, 454 f.). Ob eine solche Prognose angenommen werden kann, lässt sich mit der dafür erforderlichen, aber auch genügenden Wahrscheinlichkeit regelmäßig auf der Grundlage von zuvor dem Arbeitnehmer gegenüber erteilten Abmahnungen beurteilen (Prognosegrundlagen). Auch nach der neueren Rechtsprechung des BAG (Urteil v. 04.06.1997 – 2 AZR 526/96 – AP Nr. 137 zu § 626 BGB, unter II 1 d der Gründe) ist eine Abmahnung bei schweren Vertragsverletzungen, wenn dem Arbeitnehmer die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens ohne weiteres erkennbar war und er mit der Billigung seines Verhaltens durch den Arbeitgeber nicht rechnen konnte, entbehrlich (BAG, Urteil v. 11.03.1999 – 2 AZR 427/98 – AP Nr. 115 zu § 626 BGB). In diesen Fällen kommt es auf eine Wiederholungsgefahr nicht an, da das Vertrauensverhältnis so stark belastet ist, dass sich der Pflichtverstoß selbst als fortdauernde Störung auswirkt und eine Wiederherstellung des vertragsnotwendigen Vertrauens nicht erwartet werden kann (HaKo-Fiebig, a. a. O., § 1 Rz. 226). Nach dem weiter zu Grunde zu legenden Maßstab der Verhältnismäßigkeit muss die Kündigung das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel sein, die Konfliktlage zu beseitigen (allgemein dazu HaKo-Pfeiffer, a. a. O., § 1 Rz. 143 m. w. N.). Darüber hinaus muss es dem Arbeitgeber auf der zweiten Stufe der Kündigungsprüfung unzumutbar sein, das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Dieser zeitliche Gesichtspunkt ist der wichtigste Unterschied zwischen einer außerordentlichen und einer ordentlichen Kündigung auf der zweiten Stufe des Prüfungsprogramms. Hier wie dort handelt es sich jedoch um eine Interessenabwägung. Es müssen die vorliegenden Umstände bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen. Die Interessenabwägung muss alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigen (ständige Rechtsprechung des BAG, z. B. Urteil v. 07.03.1980 – 7 AZR 1093/77 – AP Nr. 9 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung).

 

3. Hieran gemessen ist die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 08.07.1999 rechtsunwirksam. Sie ist ausschließlich als verhaltensbedingte Kündigung zu beurteilen. Einer vorherigen Abmahnung bedurfte es nicht. Jedoch verstößt die Kündigung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

 

a) Zunächst ist der Ausgangspunkt des Arbeitsgerichts zutreffend. Entgegen der Auffassung des Klägers ist die von der Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung als verhaltensbedingte Kündigung zu beurteilen. Obgleich der Kläger im Zeitpunkt des Zugangs der in Rede stehenden Kündigung offensichtlich alkoholkrank war, was auch die nachträglich durchgeführte Entgiftung und Entwöhnungstherapie bestätigt, hat die Beklagte nicht etwa deswegen gekündigt, sondern ausschließlich wegen seines Verhaltens vom 30.06.1999.

 

In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, von der abzuweichen die Kammer keine Veranlassung hat, richtet sich die Abgrenzung, ob ein personenbedingter oder verhaltensbedingter Kündigungsgrund vorliegt, in erster Linie danach, aus welchem der – in der gesetzlichen Bestimmung des § 626 Abs. 1 BGB nicht einmal gesondert aufgeführten – Bereiche die sich auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses nachteilig auswirkende Störung kommt (BAG, Urteil v. 13.03.1987 – 7 AZR 724/95 – AP Nr. 37 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; BAG, Urteil v. 21.01.1999 – 2 AZR 665/98 – AP Nr. 151 zu § 626 BGB). Die Störquelle lag vorliegend allein im Bereich der verhaltensbedingten Kündigungsgründe. Insoweit kommt es entscheidend auf den vom Arbeitgeber unterbreiteten Lebenssachverhalt an. Die Beklagte hat allein wegen des Verhaltens des Klägers am 30.06.1999 die Kündigung ausgesprochen. Dementsprechend hat sie auch dem Personalrat denselben Verhaltenssachverhalt mitgeteilt.

 

b) Zutreffend geht das Arbeitsgericht davon aus, dass das Verhalten des Klägers an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Beleidigungen und insbesondere Bedrohungen von Vorgesetzten und Mitarbeitern stellen jeweils einen erheblichen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis dar und sind nach der Rechtsprechung an sich geeignet, eine verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen (BAG, Urteil v. 18.07.1957 – 2 AZR 121/55 – AP Nr. 1 zu § 124a GewO; BAG, Urteil v. 26.05.1977 – 2 AZR 632/76 – AP Nr. 5 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht; BAG, Urteil v. 12.01.1995 – 2 AZR 456/94 – RzK I 6 a Nr. 121). Zutreffend hat das Arbeitsgericht in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der Kläger mehrfach wegen Gewaltdelikten wie Hausfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und auch noch wegen gefährlicher Körperverletzung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit verurteilt worden ist. Darüber hinaus ergibt sich aus den Aktenvermerken im Zusammenhang mit seinen alkoholbedingten Ausfällen in den Jahren 1993 und 1994, dass er selbst davon ausgeht, im Trunkenheitszustand nicht mehr zu wissen, was er tut (s. Aktenvermerk v. 30.11.1993, AS 102 d. A. d. ArbG). Weiter weist das Arbeitsgericht zu Recht darauf hin, dass die vom Kläger ausgesprochene Drohung mit der PKK im Hinblick auf deren bekanntermaßen bestehender Gewaltbereitschaft im Jahr 1999 angsteinschüchternden Charakter hat. Frau Z. leidet nach dem Vorbringen der Beklagten in der mündlichen Verhandlung auch heute noch nach dem verbalen Übergriff des Klägers unter Angstzuständen. Dies belegt auch die beabsichtigte Einvernahme der Frau Z. als Zeugin anlässlich des Kammertermins des Arbeitsgerichts vom 25.11.1999, die daran scheiterte, dass sie einen psycho-somatischen Zusammenbruch erlitt.

 

c) Für die Eignung des Kündigungssachverhalts als außerordentlicher Kündigungsgrund kommt es nicht darauf an, ob der Kläger Beleidigungen und insbesondere die Bedrohungen im Zustand der Schuldfähigkeit verursacht hat. Dass der Kläger auf Grund des erheblichen Alkoholkonsums am Vorabend bis hin zur Arbeitsaufnahme eine bedeutsame Blutalkoholkonzentration mit der Folge der fehlenden bzw. stark herabgesetzten Steuerungsfähigkeit aufwies, steht dem verhaltensbedingten Kündigungsgrund nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des BAG bildet zwar bei der verhaltensbedingten Kündigung der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers im Rahmen der Interessenabwägung ein wichtiges, oft das wichtigste Abgrenzungskriterium. Deshalb können verhaltensbedingte Gründe eine außerordentliche Kündigung in der Regel nur dann rechtfertigen, wenn der Gekündigte nicht nur objektiv und rechtswidrig, sondern auch schuldhaft seine Pflichten aus dem Vertrag verletzt hat (BAG, Urteil v. 27.07.1961 – 2 AZR 255/60 – AP Nr. 24 zu § 611 BGB Ärzte, Gehaltsansprüche; BAG, Urteil v. 21.11.1996 – 2 AZR 357/95 – AP Nr. 130 zu § 626 BGB). Dabei geht jedoch der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts von dem Rechtsgrundsatz aus, dass auch ein schuldloses Verhalten des Arbeitnehmers unter besonderen Umständen den Arbeitgeber zur verhaltensbedingten Kündigung berechtigen kann (BAG, Urteil v. 21.01.1999 – 2 AZR 665/98 – a. a. O., unter II 4 a der Gründe). Ein fehlendes Verschulden des Arbeitnehmers ist nicht beim Kündigungsgrund an sich, sondern bei der vorzunehmenden Interessenabwägung zu berücksichtigen (BAG, Urteil v. 21.01.1999 – 2 AZR 665/98 – a. a. O., unter II 4 c der Gründe unter Hinweis auf RAG, Urteil v. 22.05.1940 – RAG 222/39 – ARS 40, 52, 58).

 

d) Nach Auffassung der Kammer begründet der Kündigungsanlass im insoweit maßgebenden Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 15.07.1999 die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses (negative Prognose). Einer vorherigen Abmahnung bedurfte es nicht.

 

Auf Grund der Qualität der Vertragspflichtverletzungen und eingedenk der Wirkung auf die hiervon unmittelbar Betroffenen (insbesondere Frau Z.) ist das dem Arbeitsvertrag immanente Vertrauensverhältnis so stark belastet, dass sich die Pflichtverstöße selbst als fortdauernde Störung auswirken und eine Wiederherstellung des vertragsnotwendigen Vertrauens nicht erwartet werden kann.

 

e) Die Beklagte hat jedoch die außerordentliche Kündigung unter Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgesprochen. Nach diesem Prinzip muss die Kündigung das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel sein, die Konfliktlage zu beseitigen. Daran fehlt es. Die Beklagte hat sich nicht an das sich selbst auferlegte Konfliktsteuerungsinstrument nach § 3 DV 1988 gehalten.

 

Bedenken an der Wirksamkeit der DV 1988 bestehen nicht. Personalvertretungsrechtliche Grundlage ist insbesondere § 79 Abs. 3 Nr. 8 LPVG. Danach können Dienstvereinbarungen über die Ordnung in der Dienststelle und das Verhalten der Beschäftigten, wozu der Regelungsgehalt der DV 1988 gehört, abgeschlossen werden. Durch die DV 1988 wird das staatliche Kündigungsschutzrecht nicht unmittelbar betroffen. Sie beschreibt lediglich die Vorgehensweise bei ihrem Geltungsbereich unterliegenden Fallgestaltungen. Im Übrigen wäre es wegen des einseitig zwingenden Charakters des allgemeinen Kündigungsschutzes statthaft, für den Arbeitnehmer günstigere Vereinbarungen, z. B. per Dienstvereinbarung, abzuschließen (KR-Etzel, 6. Aufl., § 1 KSchG Rz. 28 f.).

 

§ 3 regelt das Vorgehen bei einem Rückfall. Fällt danach der Mitarbeiter u. a. nach einjähriger Unauffälligkeit am Arbeitsplatz wieder wegen Alkoholmissbrauchs auf, so ist nach einem Gespräch mit ihm im Übrigen weiter nach den Grundsätzen des Vorgehens bei erstmaliger Auffälligkeit zu verfahren. Dies hat die Beklagte nicht beachtet. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts und der Meinung der Beklagten findet die Dienstvereinbarung auf den Kläger Anwendung. Jedwedes alkoholbedingte auch rechtswidrige Verhalten unterfällt dem Anwendungsbereich der DV 1988. Die von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht vertretene Auffassung, die DV 1988 betreffe lediglich personenbedingte Lebenssachverhalte, findet weder im Text der DV 1988 noch in ihrem Sinn und Zweck eine Grundlage. Nach § 1 Abs. 1 DV 1988 ist die Dienstvereinbarung u. a. anzuwenden, wenn ein Mitarbeiter wegen einer alkoholbedingten Verletzung seiner Dienstpflichten ausfällt. § 1 Abs. 3 DV 1988 sieht als Sanktionsmittel eine schriftliche Abmahnung durch den Leiter des Beschäftigungsamts vor. Daraus folgt, dass die DV 1988 das gesamte Spektrum der Störquellen im Arbeitsverhältnis erfasst, soweit ihnen Alkohol-, Drogen- und Medikamentenkonsum zu Grunde liegt (vgl. Vorbemerkung und § 5 DV 1988). Die Beklagte hat es verabsäumt, die ihr sehr wohl bekannten alkoholbedingten Auffälligkeiten des Klägers im Januar 1999 und im Mai und Juni 1999 zum Anlass zu nehmen, das Verfahren nach § 3 DV 1988 einzuleiten. So wurde der Kläger bereits am 12.01.1999 wegen eines „Rückfalls“ ermahnt (Schriftsatz der Beklagten v. 22.11.1999, S. 2 = AS 84 d. A. d. ArbG). Des Weiteren hat der Dienststellenleiter Br. in den Monaten Mai und Juni 1999 eine Trunkenheit während der Arbeitszeit in fünf Fällen dokumentiert. Diese Feststellungen hat die Beklagte dem Personalrat im Anhörungsschreiben vom 07.07.1999 mitgeteilt. Weiter darf aus dem gemeinsamen Protokoll für die Tagung „Alkoholprobleme am Arbeitsplatz“, Punkt 2.5 „Einführung in die Dienstvereinbarung...“ zitiert werden: „Dienstrechtlich gesehen sei das Verfahren nach der Dienstvereinbarung durch die Unterschrift des Oberbürgermeisters zwingend vorgeschrieben und gehöre zu den Dienstpflichten der Mitarbeiter. Kündigungen bei Tarifbereich Angestellte und Arbeiter oder Disziplinarstrafen bei Beamten wegen Alkoholmissbrauchs und dessen Folgen seien künftig nur noch möglich, wenn dieses Verfahren eingehalten worden sei...“. Der alkoholbedingten Ausfälligkeit des Klägers vom 30.06.1999 hätte die Beklagte mit dem sie bindenden Instrument nach § 3 i. V. m. § 1 Abs. 3 ff. DV 1988 begegnen müssen. Eine die Selbstbindung der Beklagten beachtende Kündigung wäre nur unter den Voraussetzungen des § 3 i. V. m. § 1 Abs. 5 DV 1988 möglich gewesen.

 

f) Da die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 08.07.1999 nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einklang steht und somit rechtsunwirksam ist, kommt es auf die weiteren Gesichtspunkte (Interessenabwägung, Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist nach § 626 Abs. 2 BGB, ordnungsgemäße Anhörung des Personalrats) nicht mehr an. Eine Umdeutung der außerordentlichen Kündigung in eine ordentliche Kündigung scheitert bereits am tariflichen Kündigungsschutz nach § 52 Abs. 1 BMT-G.

 

II.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

 

Rechtsmittelbelehrung:

 

Gegen dieses Urteil gibt es kein Rechtsmittel. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor. Auf § 72 a ArbGG wird hingewiesen.